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Werner, Micha H. (2006):

"Deontologische Theorien"

Der Text wurde ursprünglich 1997 verfasst. Eine überarbeitete Fassung ist erschienen in: Wils, Jean-Pierre / Hübenthal, Christoph (Hg.): Lexikon der Ethik. Paderborn: F. Schöningh, S. 40-49. Eine niederländische Fassung ist in Vorbereitung. 



1 Begriff

Der Begriff "Deontologie" ist verhältnismäßig neuen Datums. Wörtlich übersetzt bedeutet Deontologie die Lehre vom Sollen (von griech. to deon - das Schickliche, die Pflicht). Erstmals von Deontologie gesprochen hat der Utilitarist J. Bentham (vgl. Bentham 1834). Die Bedeutung, die er diesem Begriff beigelegt hat, entspricht jedoch nicht mehr der gegenwärtig üblichen Verwendungsweise.

Bentham interpretiert die moralische Handlungsorientierung instrumentell, nämlich im Sinne eines handlungskonsequentialistischen (­Konsequentialismus) und teleologischen (­Teleologie) Moralverständnisses (vgl. zum Verhältnis beider Nida-Rümelin 1993). Der teleologischen Auffassung zufolge kann eine Handlung genau dann und insoweit als im moralischen Sinne richtig (bezogen auf eine gegebene Handlungssituation) charakterisiert werden, wenn und sofern sie zur Verwirklichung eines Zustands beiträgt, den man aufgrund von Kriterien, die nicht selbst moralischer Art sind, als gut bezeichnen kann: Im Rahmen teleologischer Ethiken ist das moralisch Rechte bzw. Richtige (­richtig) kriteriologisch bestimmt durch seinen funktionalen Beitrag zur Verwirklichung eines bestimmten nichtmoralisch-evaluativ Guten (­das Gute). Bentham sieht dieses Gute in demjenigen Zustand, in dem das größte Glück der größten Zahl (empfindungsfähiger Wesen) gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang hat die Deontologie die Begründung situationsspezifischer moralischer Regeln zu leisten. Wegen der funktionalen Bedeutung dieser Regeln hat Benthams Deontologie über weite Strecken den Status einer empirisch-sozialtechnologischen Wissenschaft, deren Aufgabe die Beantwortung der Frage ist, wie das größte Glück der größten Zahl verwirklicht werden kann.

Während Benthams Deontologie in den Kontext einer teleologischen Moralphilosophie eingebettet war, hat sich das Begriffsverständnis seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Deontologische und teleologische Theorien werden nun in aller Regel als zwei konkurrierende und strukturell gegensätzliche Typen normativer Ethik verstanden (vgl. klassisch Broad 1979/1930; Muirhead 1932).

So gewinnt z. B. W. K. Frankena sein Verständnis deontologischer Theorie aus einer Negation der Charakteristika teleologischer Ethik. Seine Definition darf inzwischen als klassisch gelten:

"Deontological theories deny what teleological affirm. They deny that the right, the obligatory, and the morally good are wholly, whether directly or indirectly, a function of what is nonmorally good or of what promotes the greatest balance of good over evil for self, one's society, or the world as a whole. They assert that there are other considerations that may make an action or rule right or obligatory besides the goodness or badness of its consequences - certain features of the act itself other than the value it brings into existence, for example, the fact that it keeps a promise, is just, or is commanded by God or by the state." (Frankena 1973: 15)

Auch J. Rawls bezieht sich zustimmend auf Frankena. Seiner ebenfalls viel zitierten knappen Bestimmung zufolge ist diejenige Theorie als deontologisch zu bezeichnen, "that either does not specify the good independently from the right, or does not interpret the right as maximizing the good" (Rawls 1971: 30).

Eine engere Definition deontologischer Theorien schlägt J. Nida-Rümelin vor. Über die bislang genannte Bedingung hinaus, daß das Rechte im Rahmen deontologischer Theorien kriteriologisch nicht vollständig vom nichtmoralisch Guten abhängig sein darf, müssen ihm zufolge deontologische Theorien noch einem weiteren Kriterium genügen. Dieses "Unterscheidungskriterium bezieht sich darauf, ob für eine normative Theorie T das moralisch Gute abhängig vom Rechten ist bzw. ob die moralisch-axiologischen Aussagen von T abhängig von den normativen sind. Wird diese Frage bejaht, dann handelt es sich um eine deontologische Theorie." (Nida-Rümelin 1993: 87, vgl. auch 63 ff.)

Die unterschiedlichen intensionalen Bestimmungen haben teilweise auch Auswirkungen auf die Extension des Begriffs 'deontologisch'. Die Standardauffassung besagt, daß die Unterscheidung zwischen deontologischen und teleologischen Theorien eine vollständige Distinktion darstellt, so daß keine Typen ethischen Denkens denkbar sind, die nicht entweder als deontologisch oder als teleologisch zu bezeichnen wären. Es gibt jedoch Autoren, die diese Auffassung bestreiten. Kontrovers ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Zuordnung der ­Tugendethiken und Vollkommenheitsethiken (­Perfektionismus/Perfektion). Für gewöhnlich werden sie den teleologischen Ethiken zugerechnet. J. Nida-Rümelin ist hingegen der Ansicht, daß diese Ethiken weder als teleologisch noch als deontologisch zu betrachten seien. Allerdings wird auch von den Vertretern der Standardauffassung anerkannt, daß die Gruppe der nicht-deontologischen Ethiken intern heterogen ist (vgl. u.a. Rawls 1971: 25 f.; Korsgaard 1998).

In Gegensatz zu den vorgenannten Formulierungen scheinen die folgenden Definitionsvorschläge mehr oder weniger unbefriedigend:

1. Definitionen, wonach deontologische Ethiken allein durch einen "Vorrang des Rechten vor dem Guten" und teleologische umgekehrt durch den "Vorrang des Guten vor dem Rechten" gekennzeichnet sind. Diese Redeweise ist insofern zu unspezifisch, als auch im Rahmen teleologischer Ethiken ein Widerspruch zwischen dem individuell - d.h. aus der partikularen Perspektive eines moralischen Akteurs - Guten und dem moralisch Rechten auftreten kann, der grundsätzlich zugunsten des Rechten aufgelöst werden soll, sofern es sich um nicht-egoistische Ethiken handelt (vgl. Larmore 1998).

2. Nicht völlig überzeugend sind auch Definitionen, denen zufolge das Spezifikum deontologischer Ethiken darin liegt, daß sie in manchen Situationen solche Handlungsweisen, die nicht zu einer Maximierung des Guten führen, als moralisch geboten ausweisen (vgl. McNaughton 1998: 890). Obwohl diese Beschreibung zweifellos auf die meisten deontologischen Ethiken zutrifft, ist es doch nicht aus begrifflichen Gründen zwingend, daß es sich so verhalten müsse. Das gilt unter anderem, weil die Unterscheidung zwischen deontologischen und teleologischen Theorien strenggenommen nur auf die Bestimmung der letzten ethischen Orientierungspunkte bezogen ist. Daher ist es möglich, konsequentialistisch-erfolgsorientierte Verpflichtungen deontologisch zu rechtfertigen (vgl. Nida-Rümelin 1993: 63). Unbefriedigend ist auch die Erläuterung "Deontology [...] typically holds that there are several irreducibly distinct duties, such as promise-keeping and refraining from lying [...]" (McNaughton 1998: 890), da hierdurch akt-deontologische Konzeptionen (s. u.) aus dem Bereich der deontologischer Ethik ausgeschieden und Deontologie insgesamt mit einer rigoristisch-gesinnungsethischen Pflichtenethik im Sinne M. Webers (vgl. v.a. Weber 1988/1919) konfundiert wird (noch deutlicher bei N. A. Davis; vgl. Davis 1991) - "nicht jede deontologische Ethik ist jedoch als Pflichtenethik zu charakterisieren" (Nida-Rümelin 1993: 83). Eine ähnliche Engführung wird zumindest nahegelegt durch die Auffassung daß unter Deontologie "diejenige Form normativer Ethik" zu verstehen ist, "dergemäß sich Verbindlichkeit und Qualität moralischer Handlungen und Urteile aus der Verpflichtung zu bestimmten Handlungsweisen bzw. Handlungsmaximen herleiten - prinzipiell unabhängig von vorgängigen Zwecken und möglichen Konsequenzen des Handelns" (Fahrenbach 1971). Diese Formulierung läßt nämlich nicht erkennen, daß deontologisch begründete Verpflichtungen durchaus zweck- und folgensensitiv formuliert sein können. Beispielsweise könnte im Rahmen einer deontologischen Ethik folgende Pflicht begründet werden: "Der Arzt soll so handeln, daß dem Wohl des Patienten am besten gedient ist", eine Pflicht, aus der sich in Abhängigkeit von den Situationsumständen und den subjektiven Zwecksetzungen des Patienten unterschiedliche spezifische Handlungsverpflichtungen ergeben. Die Einbeziehung zweck- und erfolgsbezogener Verpflichtungen läßt den deontologischen Charakter einer ethischen Theorie nämlich so lange unbeschadet, wie der letzte Grund der Verbindlichkeit dieser Verpflichtungen nicht allein im Hinweis auf die durch sie erreichte Maximierung eines nichtmoralischen Guten besteht.

Innerhalb der deontologischen Ethiken werden häufig zwei Binnendifferenzierungen vorgenommen. Zum ersten wird zwischen aktdeontologischen (z. B. Carritt 1948; Sartre 1946) und regeldeontologischen (klassisch Kant 1968/1785; Kant 1968/1788) Konzeptionen unterschieden. Während die Regeldeontologie allgemeine Handlungstypen als verboten, erlaubt oder geboten ausweist (man denke z. B. an das Lügenverbot oder die Pflicht, Versprechen zu halten), bezieht sich den aktdeontologischen Theorien zufolge das deontologische Moralurteil unmittelbar auf spezifische Handlungsweisen in jeweils bestimmten Handlungssituationen.

Eine zweite Differenzierung betrifft die Verbindlichkeit der im Rahmen regeldeontologischer Ethiken als gültig ausgewiesenenen moralischen Verpflichtungen. Diese werden entweder, wie z. B. bei Kant und Ch. Fried (vgl. Fried 1979: 9 ff.), als uneingeschränkt bzw. absolut gültig angesehen (zur Übersicht vgl. Garcia 1992), oder sie gelten als Prima-facie-Verpflichtungen, die im Einzelfall Ausnahmen zulassen (z. B. Ross 1930; zur Übersicht vgl. Dancy 1991).

2 Geschichte / Theorien

Die normative Ethik I. Kants wird allgemein als die erste entfaltete Konzeption philosophischer Ethik angesehen, die im derzeit gebräuchlichen Sinn als deontologisch zu bezeichnen ist.

Vielfach ist betont worden, das deontologische Ethikverständnis habe sich erst im Kontext der spezifisch neuzeitlichen Auffassung vom Vorrang des Rechten vor dem Guten entwickeln können. Diese sei der antiken Moralauffassung fremd (vgl. Sidgwick 1981/1874). Hinzuweisen ist gleichwohl auf deontologische Motive in der antiken Moralphilosophie, wie sie zumal in der Ethik der Stoa - z. B. in Gestalt der gewissensethischen Deutung des Guten und seiner Abgrenzung gegenüber dem Präferierten - zu finden sind (vgl. Pohlenz 1948: 178 ff.; Forschner 1981). Unbestritten ist jedenfalls, daß der nominalistische ­Voluntarismus des Spätmittelalters (J. Duns Scotus, W. v. Ockham) sowie die im Anschluß an diesen insbesondere von D. Hume erarbeitete Einsicht in die Unzulässigkeit der Ableitung präskriptiver Normen aus deskriptiven Aussagen (­naturalistic fallacy/Naturalistischer Fehlschluß) wesentliche geistesgeschichtliche Voraussetzungen für die Entwicklung der deontologischen Moralphilosophie darstellen (vgl. Desjardins 1963; Wolter 1990).

Die von Kant vollzogene deontologische Wende ist in erster Linie durch sein Bemühen motiviert, die durch Humes Einsichten zugespitzte Grundlagenkrise auch im Bereich der Moralphilosophie zu überwinden. Insofern ist sie Bestandteil seines Projekts der kritischen Erneuerung der Philosophie insgesamt. Kant wendet Humes Kritik des naturalistischen Fehlschlusses gegen jede Form teleologischer Moralbegründung. Der Versuch, moralische Verbindlichkeit im Rückgang auf die evaluative Wertschätzung eines nichtmoralisch Guten zu begründen, verfällt der Naturalismuskritik, weil vormoralischen Werturteilen kein präskriptiver Geltungssinn zukommt und sie letztlich auf empirische Präferenzen zurückgeführt werden können: "Alle praktische Principien, die ein Object (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben." (Kant 1968/1788: 38; vgl. ebd. S. 35-71). Teleologische Ethiken basieren daher auf einem Kategorienfehler. Damit sind sie zum einen begründungstheoretisch unhaltbar. Zum anderen hat dieser Ebenenfehler die mißliche Konsequenz, daß moralische Verpflichtungen von nichtmoralischen Werturteilen abhängig gemacht werden, welche ihrerseits allererst einer ethischen Kritik unterworfen werden müßten.

Aus diesen Gründen kann es sich Kant zufolge beim Moralprinzip nicht um einen 'hypothetischen', d. h. von der Orientierung an vorgängigen Handlungszielen abhängigen, sondern nur um einen 'kategorischen', d. h. von vorgängigen Zwecksetzungen vollständig unabhängigen und insofern mit unbedingtem Sollensanspruch auftretenden Imperativ handeln (­Kategorischer Imperativ). Dieses Moralprinzip ist Kant zufolge identisch mit dem Prinzip der Autonomie; die unbedingte Verpflichtung zur Orientierung am Moralprinzip ist daher gleichursprünglich mit der Willensfreiheit der Moralsubjekte (Kant 1968/1785: 440; Kant 1968/1788: 52 ff.).

In der neueren Diskussion finden sich neben mehr oder weniger 'orthodox' kantianischen Positionen (­Kantianismus/Neo-Kantianismus), auch eigenständige bzw. über Kant hinausgehende Versuche der Begründung deontologischer Ethik. Im angelsächsischen Sprachraum, der traditionell stärker durch die teleologische Tradition des Utilitarismus geprägt ist, kommt zunächst vor allem den deontologischen Positionen H. A. Prichards (Prichard 1968) und seines Schülers W. D. Ross - zumal dessen systematischer Studie The Right and the Good - große Bedeutung zu (Ross 1930; Ross 1939; für einen neueren Verteidigungsversuch vgl. McNaughton 1996). Zentrales Anliegen Prichards ist die Begründung der These, daß sich das Rechte nicht auf etwas anderes außerhalb seiner selbst zurückführen lasse. Unserer Wissen um moralische Verpflichtungen sei unmittelbar und intuitiv (vergleichbar mit dem intuitiven Wissen um die richtige Lösung einer Rechenaufgabe); der Moralphilosophie komme daher nur die kritische Aufgabe zu, Mißverständnisse über die Natur des Moralischen und unnötige Begründungsversuche zurückzuweisen. Eine derjenigen Prichards ähnliche Position vertritt später auch E. F. Carritt (Carritt 1948). Ch. D. Broad repräsentiert eine vorsichtigere, intuitionistisch-deontologische mit utilitaristischen Momenten kombinierende Richtung (Broad 1979/1930; für eine Übersicht vgl. Hill 1960: 321-347). Als neuere Versuche einer systematischen Verteidigung des deontologischen Standpunkts haben v. a. die Arbeiten von J. Dancy (Dancy 1993) von Ch. Fried (Fried 1979) Beachtung gefunden.

Eine breitere Wirkung erzielten etliche im Kontext der "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Riedel 1972) in den sechziger und siebziger Jahren entwickelten deontologischen Ansätze normativer Ethik. Insbesondere die kantianisch inspirierte, kontraktualistische mit intuitionistischen Elementen kombinierende Konzeption des vormaligen Utilitaristen J. Rawls hat zur Verbreitung deontologischer Überlegungen in der Moral-, Rechts- und politischen Philosophie sowie der Wirtschaftsethik beigetragen (Rawls 1971). Rawls entwirft eine Gerechtigkeitstheorie, die neben einer ausführlichen Utilitarismuskritik die Forderung nach der Gleichverteilung fundamentaler Grundgüter und -freiheiten enthält und die Legitimität von Ungleichheiten in der Verteilung der über den Grundbedarf hinausgehenden Güter an die Bedingung knüpft, daß sich aus für die Schlechtergestellten gegenüber der Gleichverteilung ein Vorteil ergibt. Wichtige Vertreter pointiert deontologischer Positionen sind außerdem u. v. a. A. Gewirth (vgl. Gewirth 1978; vgl. Steigleder 1999) und Th. Nagel (Nagel 1986). Da der Begriff Deontologie einen allgemeinen Grundtypus normativer Ethik beschreibt, ist es freilich weder möglich noch sinnvoll, alle Vertreter deontologischer Positionen zu erwähnen, zu denen gemäß den oben angeführten Definitionen von Frankena, Rawls und Nida-Rümelin auch z. B. der 'Gerechtigkeitskonsequentialismus' M. G. Singers (vgl. Singer 1963) und sogar der 'Gerechtigkeitsutilitarismus' R. M. Hares (vgl. Hare 1963) zu rechnen ist.

Als Beispiel für eine anti-deontologische Richtung ist außer originär utilitaristischen Ansätzen der zunächst vor allem gegen Rawls' Gerechtigkeitstheorie gerichtete ­Kommunitarismus zu erwähnen (vgl. klassisch Sandel 1982), insofern er den epistemologischen und normativen Vorrang des Rechten vor dem Guten in Zweifel zieht und dabei u. a. auf die Tradition der Tugendethik zurückgreift (vgl. MacIntyre 1981).

In der kontinentaleuropäischen Diskussion sind deontologische Positionen traditionell stärker vertreten. Prominent sind im deutschen Sprachraum derzeit u. a. die v. a. von K.-O. Apel und J. Habermas vertretene Diskursethik (Apel 1988; Habermas 1983), die sich als intersubjektivistische, sprachpragmatisch-hermeneutische Aufhebung der kantischen Moralphilosophie begreift, sowie die enger an Kant angelehnte Position O. Höffes (Höffe 1990; Höffe 1992/1983: 173 ff.). Einig sind sie in dem Versuch, rigoristische Konsequenzen einer starren Pflichtenethik zu vermeiden - bei Höffe durch einen Maximenkonzeption, die der Urteilskraft großen Raum läßt, bei den Diskursethikern durch die Einbeziehung von Konsequenzerwägungen in das Moralprinzip sowie durch die Einführung zusätzlicher Anwendungskautelen. Prominent ist auch die kontraktualistische, autonomietheoretische und aristotelische Elemente verbindende normative Ethik E. Tugendhats, die den normativen Kern der kantischen Moralphilosophie rekonstruieren, auf Kants Konzept eines kategorischen Imperativs jedoch zugunsten eines 'instrumentalistischen' Verständnisses praktischer Rationalität verzichten können soll (vgl. Tugendhat 1993: 43 ff., 136 ff.).

In der Moraltheologie sind bis heute sowohl deontologische als auch teleologische Motive wirksam. In dieser Spannung wirkt der scholastische Dualismus zwischen der aristotelisch-thomistischen, teleolgisch-tugendethischen Naturrechtstradition und der paulinisch-augustinischen, im spätmittelalterlichen Nominalismus kulminierenden voluntaristischen Gegenposition fort (vgl. Käuflein 1995; Weiss 1996).

3 Praxis

Die Unterscheidung zwischen deontologischen und teleologischen Konzeptionen normativer Ethik ist sehr allgemeinen, grundlagentheoretischen Charakters; Konzeptionen, die einem der beiden Typen normativer Ethik zuzurechnen sind, können untereinander große Differenzen aufweisen. Dementsprechend können hier nur 'idealtypisch' einige generelle Merkmale des deontologischen Theorietyps thematisiert werden, die im Einzelfall mehr oder weniger relevant sein können.

Eines der charakteristischen Merkmale deontologischer Theorien kann darin gesehen werden, daß die in ihrem Rahmen begründeten moralischen Verpflichtungen akteursbezogen ('agent-relative') sind (z. B. die Form spezifischer Verpflichtungen annehmen können, die X als Freund oder als Vater von Y gegenüber und nur gegenüber Y hat), während teleologische Ethiken insofern als akteursindifferent ('agent-neutral') zu gelten haben, als die situationsspezifischen Verpflichtungen moralischer Handlungssubjekte von ihrer Identität unabhängig und allein durch die Konstellation möglicher Handlungsverläufe und -konsequenzen bestimmt sind (die freilich durch die Identität des moralischen Akteurs mitbestimmt sein können).

Kennzeichnend für deontologische Theorien ist überdies die Überzeugung, daß ein moralisch relevanter Unterschied zwischen dem intentionalen Herbeiführen und dem bloßen Geschehenlassen von Ereignissen besteht. Vertreter deontologischer Positionen gehen davon aus, daß Personen nicht in derselben Weise für nichtintendierte Handlungskonsequenzen wie für ihre Handlungen und deren bewußt angestrebte Ziele (Ergebnisse) verantwortlich sind (-Unterlassung; -Doppelte Wirkung). Aus diesem Grund kommen sie bei der moralischen Beurteilung zahlreicher Problemsituationen zu anderen Ergebnissen als Vertreter teleologischer Ethiken. Während es z. B. gemäß teleologischen Konzeptionen prima facie moralisch scheint, einen unschuldigen Menschen zu töten, um fünf andere Menschen zu retten, ist das im Rahmen deontologischer Konzeptionen nicht der Fall. (Die Frage, ob deontologisch verbotene Handlungsweisen von der Art 'Tötung eines Unschuldigen' schlechthin verboten sind, oder ob derartige Verbote legitime Ausnahmen zulassen, wird, wie oben angedeutet, von Vertretern dieser Position verschieden beantwortet.)

Ein weiterer, häufig thematisierter Unterschied zwischen deontologischen und teleologischen Konzeptionen liegt darin, daß im Rahmen strikt teleologischer Ethiken notwendig alle Handlungsweisen entweder als moralisch richtig oder als falsch zu gelten haben. Da es sich bei moralischen Forderungen um Maximierungsgebote handelt, sind nahezu immer moralisch bessere und schlechtere Handlungsalternativen zu identifizieren, von denen die besseren jeweils moralisch geboten sind. Demgegenüber weisen deontologische typischerweise - aber nicht notwendigerweise - neben den Bereichen des moralisch Gesollten und des Verbotenen einen Bereich des moralisch Erlaubten aus, der größer ist als der Bereich des Gesollten. Dadurch wird auch für supererogatorische (verdienstliche, aber nicht moralisch einklagbare) Handlungen Raum geschaffen.

Von ihren Vertretern wird vielfach geltend gemacht, nur deontologische Theorien seien imstande, den normativen Gehalt des Menschenwürdebegriffs sowie der individuellen Grundrechte zu rekonstruieren. Auch die Begründung von Gerechtigkeitsnormen und von unmittelbar interaktionsbezogenen Handlungsverpflichtungen - z. B. der Pflicht, Versprechen zu halten, nicht zu lügen u. ä. (vgl. Nagel 1986: 176) - sei im Rahmen nicht-deontologischer Konzeptionen nicht zu leisten (vgl. u. v. a. Nida-Rümelin 1993).

Beansprucht wird auch, v. a. von Kant und Prichard, das Spezifikum des moralischen Verpflichtungssinns - die unbedingte Verbindlichkeit des moralischen Sollens und seine Vorrangigkeit gegenüber allen subjektiven Zwecksetzungen bzw. Präferenzen - sei nur im Rahmen deontologischer Ethik zur Geltung zu bringen. Daher lasse sich außerhalb dieses Rahmens weder das Phänomen moralischer Verpflichtungen adäquat verstehen noch die Verbindlichkeit dieser Verpflichtungen haltbar begründen.

Ein starkes Argument für die deontologische Position kann man darin sehen, daß folgenbezogene Überlegungen offenbar in deontologische Ethiken integriert werden können, während umgekehrt die Integration deontologischer Argumente in eine teleologische Ethik prinzipiell unmöglich zu sein scheint, da das Spezifikum des Verbindlichkeitssinns deontologisch begründeter moralischer Verpflichtungen in dem Moment verlorengehen muß, in dem diese in eine zweckrationale Begründungsstruktur integriert werden.

Berechtigte Kritik richtet sich hingegen jedenfalls gegen 'absolutistische' bzw. rigoristische regeldeontologische Konzeptionen, insofern diese der Möglichkeit von Pflichtenkollisionen nicht angemessen Rechnung tragen und gegen intuitionistisch-deontologische Ethiken, die eine Antwort auf das Begründungsproblem schuldig bleiben.

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