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Werner, Micha H. (2001):

Ethische Implikationen der Grenzziehung zwischen Gesundheit und Krankheit

Vorläufiges, nicht zitierfähiges Diskussionspapier.

Eine PDF-Version dieses Textes finden Sie hier.

Eine überarbeitete Fassung erscheint in der Zeitschrift Ethik und Unterricht.




"Entscheidungen über die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit haben unmittelbare und nachhaltige Konsequenzen für das Alltagsleben und die Verteilung großer Anteile an sozialen Ressourcen. Daher ist die Analyse des Gesundheits- und Krankheitskonzepts nicht lediglich eine intellektuelle oder philosophische Gedankenübung. Wie wir diese Begriffe definieren, hat sehr greifbare rechtliche, soziale und ökonomische Konsequenzen." (Caplan 1997, S. 57; Übersetzung M.H.W.)

1 Faktische Bedeutung des Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriffs in Moral und Recht

Die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit wird in vielen Zusammenhängen für normativ bedeutsam gehalten. Beispielsweise ist Kranksein häufig eine gute Entschuldigung dafür, bestimmte Pflichten nicht erfüllen zu können. In manchen Fällen entlastet Krankheit auch von der Verantwortung für getane Taten. Umgekehrt hat, wer krank ist, manchmal auch besondere Verpflichtungen. Demjenigen, der krank ist, wird häufig ein Recht auf Hilfeleistungen zugestanden. Mitunter werden Kranke gegen ihren aktuellen Willen bestimmten Interventionen ausgesetzt oder bestimmten Einschränkungen unterworfen. Einige dieser krankheitsbezogenen Berechtigungen, Verpflichtungen und Verbote sind nicht nur moralischen Charakters, sondern auch rechtlich kodifiziert: In Einzelgesetzen wie dem Transsexuellengesetz oder dem Bundesseuchengesetz, in größeren Rechtsbereichen wie dem Arbeitsrecht (vgl. Hessel and Marienhagen 1980), dem Strafrecht und zentralen Regelungen des Sozialrechts (vgl. Mazal 1992); teilweise auch – implizit – bereits im Grundgesetz (vgl. Seewald 1981). Die Unterscheidung "gesund/krank" ist also, wie es scheint, in Moral und Recht vielfach für die Zuschreibung von Erlaubnissen, Geboten und Verboten entscheidend.

2 Warum ist die faktische Bedeutung des Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriffs ein Thema für die normative Ethik?

Inwiefern könnte darin ein ethisches Problem liegen? Was spricht dafür, die moralische und rechtliche Funktion des Krankheits- bzw. Gesundheitskonzepts ethisch zu reflektieren? Meines Erachtens gibt es hierfür mehrere Gründe.

Zunächst gibt es bei der Anwendung einiger der Normen, die auf den Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff Bezug nehmen, Interpretationsprobleme und grundlegende Kontroversen. So sind z.B. Einwände gegen die Zwangseinweisung psychisch Kranker in psychiatrische Einrichtungen erhoben worden, die mit der Auffassung begründet wurden, so etwas wie psychische Krankheit gebe es gar nicht. (z.B. Szasz 1972; zur Übersicht vgl. Schramme 2000) Dann gibt es Unklarheiten bezüglich der Frage, welche medizinischen Leistungen die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzieren müssen, die aus Dissens über die Frage, was Krankheit ist, resultieren. Im deutschen Sozialrecht haben Kassenpatienten nämlich in aller Regel nur dann einen Anspruch auf medizinische Leistungen, wenn diese notwendig sind, "um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern" (§ 27 SGB V). Manche sind allerdings der Ansicht, daß man die Frage, was Medizin dürfe und solle und welche medizinischen Leistungen sozial finanziert werden sollten, gar nicht unter Bezugnahme auf die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit beantworten könne oder solle. (Hesslow 1993; Wiesing 1998) Derartige Kontroversen können nur dann vernünftig beigelegt werden, wenn klar ist, was die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit überhaupt bedeutet, und welche moralisch- und rechtlich-normative Funktion diese Unterscheidung spielen kann oder spielen sollte.

Diese Frage ist zudem auch von theoretischem Interesse. An einigen der Kontexte, in denen die Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit relevant ist, kann illustriert werden, wie eng naturwissenschaftlich-empirische, subjektiv-evaluative und moralisch-normative (sowie auch rechtlich-normative) Fragen miteinander verwoben sein können. Krankheit ist ja erstens ein Gegenstand der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung in Medizin und Biologie, zweitens etwas, worauf subjektive Empfindungen und Bewertungen gerichtet sind, drittens – wie oben ausgeführt – etwas, das eine Rolle in sozialen Normen, bei der Rechtfertigung von Erlaubnissen, Rechten und Pflichten spielt. Die Schwierigkeit bei der Interpretation des Krankheitsbegriffs – und daher auch bei der Anwendung derjenigen Normen, die auf die Unterscheidung "gesund/krank" rekurrieren – liegt darin, daß das Verhältnis zwischen diesen drei Dimensionen unklar ist: Wenn es denn stimmt, daß die Bedeutung von Begriffen letztlich durch ihren Gebrauch bestimmt wird, so ist die Bedeutung des Krankheitsbegriffs zweifellos von allen drei Dimensionen geprägt. Es gibt aber unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche dieser Dimensionen die grundlegendere ist und wie sie miteinander zusammenhängen. Aus dieser Unklarheit ergibt sich eine Vielzahl theoretischer – auch moralphilosophischer – Probleme, z.B. in bezug auf das Verhältnis zwischen evaluativen und normativen Fragen, zwischen Fragen des Guten Lebens und Fragen der Gerechtigkeit.

3 Verschiedene Deutungen des Krankheitsbegriffs

Ein zentrales Problem sowohl bei der Anwendung derjenigen Normen, die auf die Unterscheidung "gesund/krank" rekurrieren, als auch in der Diskussion über ihre Gültigkeit, liegt in der Tatsache, daß kein Konsens darüber besteht, wie diese Unterscheidung überhaupt zu definieren ist.

Zwar gehört es in vielen Praxisbereichen zur Routine, diese Unterscheidung anzuwenden. So verfügt die Medizin über differenzierte Diagnoseschlüssel, die eine eindeutige Zuordnung konkreter Fälle zu spezifischen Krankheits- oder Störungsbildern ermöglichen sollen und hierfür operationalisierbare Kriterien benennen (u.a. die "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD 10)"; World Health Organization 1992). Freilich gibt es auch hier, bei der Diagnose einzelner Krankheitsbilder, Grenzfälle und grundsätzliche Kontroversen – in manchen Krankheitsgebieten häufiger, in anderen seltener. In vielen Fällen scheinen solche Zuordnungen jedoch relativ unproblematisch. Mit der Zuordnung eines Falles zu einer spezifischen Krankheitsdiagnose scheint dann per definitionem auch die Frage geklärt, daß dieser Fall als Vorliegen einer Krankheit interpretiert werden muß. Fragt man allerdings danach, was das Gemeinsame der verschiedenen beispielsweise in der ICD 10 aufgeführten (Krankheits-?) Phänomene ausmacht, worin der ‘Krankheitswert’ der dort beschriebenen Zustände liegt (wenn es denn so etwas gibt), warum also gerade diese Phänomene, und nicht irgendwelche anderen, in dieser Aufstellung vorkommen (sofern sie denn zu Recht dort vorkommen), dann hat die Einigkeit schnell ein Ende. Was diese Frage betrifft, wird in der philosophischen und medizintheoretischen Diskussion nach wie vor eine Vielfalt verschiedener und teilweise unvereinbarer Auffassungen vertreten. Es hat sich eingebürgert, innerhalb dieser Auffassungen – idealtypisch – zwei große Gruppen zu unterscheiden; die Gruppe der "naturalistischen" und die der "normativistischen" Konzeptionen. Da die letztere Gruppe sehr heterogen ist, sollte man meines Erachtens allerdings besser von naturalistischen und nichtnaturalistischen Auffassungen sprechen.

Naturalistische Interpretationen des Krankheitsbegriffs kommen in der Annahme überein, daß Krankheit und Gesundheit vollständig als naturwissenschaftlich objektivierbare Zustände biologischer Organismen definiert werden können. Die Entscheidung darüber, ob ein bestimmter Zustand eines Lebewesens als gesund oder krank zu definieren ist, liegt demnach allein in der Kompetenz eines naturwissenschaftlichen Beobachters dieses Organismus. Die subjektiven Präferenzen des betroffenen Lebewesens spielen für diese Entscheidung genausowenig eine Rolle wie individuelle oder kulturelle Werte oder soziale oder moralische Normen; sie stützt sich allein auf operationalisierbare und rein empirische Kriterien. Naturalistische Interpretationen des Krankheits- oder Gesundheitsbegriffs sind daher stets zugleich nichtrelativistisch: Die Einordnung eines Organismuszustands als gesund oder krank behält ihre Gültigkeit auch dann, wenn das subjektive Empfinden des betroffenen Lebewesens oder die kulturellen Deutungsmuster der Gesellschaft, in der es lebt, sich grundlegend wandeln.

Die simpelste Versuch, Krankheit naturalistisch zu interpretieren, wäre eine rein statistische Krankheitsdefinition. Krankheit wäre ihr zufolge als eine über bestimmte Schwellenwerte hinausgehende Abweichung von Durchschnittswerten zu verstehen. Tatsächlich spielen statistische Durchschnittswerte im Rahmen sehr vieler spezifischer Krankheitsdiagnosen eine Rolle. So wird ein Blutdruck unterhalb einer bestimmten Abweichung vom Durchschnitt als krankhafte Hypotonie, bei einer bestimmten Überschreitung des Durchschnittswerts als krankhafte Hypertonie angesehen, und Ähnliches gilt bei einer sehr großen Anzahl weiterer Krankheitsdiagnosen. Trotzdem ist leicht zu sehen, daß sich die Unterscheidung "krank/gesund" nicht rein statistisch interpretieren läßt. Einerseits gibt es eine Vielzahl von Normabweichungen, die wir nicht als krankhaft bezeichnen – einen Menschen von weit überdurchschnittlicher Intelligenz würden wir nicht im Ernst ‘krankhaft intelligent’ nennen. Andererseits gibt es Zustände, die wir als krankhaft ansehen, obwohl sie statistisch normal sind – das Standardbeispiel hierfür sind kariöse Zähne. Schließlich gibt es individuelle und situationsbedingte Unterschiede in den Standards des Normal-Gesunden: Für ein dreijähriges Kind sind andere physiologische Zustände ‘normal’ als für einen Vierzigjährigen, für einen Hochleistungssportler oder eine Schwangere andere Zustände als für andere Erwachsene, ohne daß wir hier von krankhaften Abweichungen sprechen würden. (Vgl. Bobbert 2000, S. 410 ff.; Boorse 1981, S. 546; D'Amico 1995, S. 557; Lanzerath 2000, S. 131 ff.; zum Kontext klassisch Canguilhem 1996)

Differenziertere naturalistische Konzeptionen halten an der Grund-idee fest, daß Krankheit etwas mit der Abweichung von statistischen Durchschnittswerten zu tun hat, ergänzen und modifizieren diese Vorstellung jedoch. Die bekannteste Fassung einer naturalistischen Krankheitsdeutung ist das Modell von Christopher Boorse, das als biostatistisches oder auch biomedizinisches Modell bezeichnet wird. Boorse zufolge läßt sich Krankheit im theoretischen Sinn ("disease") als Abweichung eines biologischen Organismus vom Zustand der "normalen Funktionsfähigkeit" definieren, der sich bei einer vergleichbaren "Referenzklasse" dieses Organismus feststellen läßt. Die "Normalität" der normalen Funktionsfähigkeit ist zunächst rein statistisch zu verstehen. Jedoch begreift Boorse Organismen als funktional integrierte Einheiten, die intern teleologisch, d.h. zielgerichtet, organisiert sind. Als Organismusziele werden von Boorse individuelles Überleben und Reproduktion angesetzt. Entsprechend wird im Rahmen von Boorses biostatistischer Krankheitskonzeption – anders als in der rein statistischen Definition – nicht jede beliebige Abweichung von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, sondern nur diejenige Abweichung, welche eine überlebens- oder reproduktionsdienliche Organfunktion unter ein Niveau absinken läßt, das für die jeweilige Referenzklasse des Organismus typisch ist. (Boorse 1976; Boorse 1977; Boorse 1981; für eine differenzierte Rekonstruktion vgl. Schramme 2000, S. 144 ff.)

Dieses Kriterium für die Unterscheidung "krank/gesund" stellt eindeutig eine – im Vergleich mit einer rein statistischen Deutung – gelungenere Rekonstruktion unserer üblichen Begriffsverwendung dar. Allerdings kann auch Boorses Modell die Probleme der rein statistischen Deutung des Krankheitsbegriffs nicht vollständig überwinden. Auch im Rahmen dieses Modells ist es nicht ohne weiteres möglich, sehr weit verbreiteten, statistisch normalen Funktionseinschränkungen – wie etwa Karies – Krankheitswert zuzuerkennen. Zudem ist die jeweilige Referenzklasse, auf die im Rahmen des Boorseschen Modells zur Bestimmung der Normalitätsstandards rekurriert wird, ist aus guten Gründen altersspezifisch gefaßt. Dies hat indes zur Folge, daß statistisch ‘normale’ Alterserscheinungen wie Arteriosklerose prinzipiell nicht als Krankheit verstanden werden können, auch wenn sie mit schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen verbunden sind. Diese Einwände zielen allerdings nur auf Boorses Anspruch, eine treffende Rekonstruktion des üblichen medizinischen Wortgebrauchs geleistet zu haben. Auch wenn dies jedoch nicht der Fall wäre, könnte Boorses Modell eine sinnvolle Definition des Krankheitsbegriffs darstellen, das eine partielle Revision unserer üblichen Verwendungsweise nahelegen würde. Andere Einwände zielen auf die von Boorse vertretene naturalistische Grundthese, eine vollständig wertfreie Definition des Krankheitsbegriffs formulieren zu können. So läßt sich fragen, ob auch die Festlegung der Referenzklasse völlig unabhängig von evaluativen oder normativen Standards erfolgen kann, oder ob hier nicht schon ‘wertende’ Plausibilitätskriterien in Spiel kommen. Zudem läßt sich bezweifeln, daß sich die von Boorse in Anspruch genommene teleologisch-funktionalistische Organismusdeutung als Form wertfreier Naturerkenntnis verstehen läßt. Die Zuschreibung von Funktionen setzt ja voraus, daß bestimmte Zielzustände (bei Boorse: individuelles Überleben und Reproduktion) ausgewiesen werden, in bezug auf die Organismusfunktionen allererst als Funktionen verstanden werden können. Es gibt nun gute Gründe für die Annahme, daß es sich bei der Zuschreibung solcher Organismusziele nicht um eine wertfreie Feststellung, sondern um eine wertende Deutung handelt. (Vgl. Searle 1995, S. 14 ff.) Wenn dieser Einwand zuträfe, wäre damit wiederum nicht gesagt, daß man bei der Erläuterung der Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit nicht auf eine funktionalistische bzw. teleologische Deutung biologischer Organismen zurückgreifen dürfte. Der naturalistische Anspruch, eine rein empirische Interpretation dieser Unterscheidung liefern zu können, wäre dann aber durch Boorses Modell nicht eingelöst.

Vertreter der nichtnaturalistischen Position bestreiten, daß sich dieser Anspruch überhaupt einlösen läßt. Sie sind der Ansicht, daß die Unterscheidung "gesund/krank" prinzipiell nicht unabhängig vom subjektiven Befinden des betroffenen Lebewesen oder von individuellen, sozialen oder moralischen Werten oder Normen definiert werden kann. Dieser Minimalkonsens läßt allerdings Raum für sehr unterschiedliche Interpretationen. Auf eine Einzeldarstellung muß daher an dieser Stelle verzichtet werden. Nichtnaturalistische Deutungen des Krankheitsbegriffs unterscheiden sich erstens in bezug auf ihre Radikalität: Während manche "Krankheit" als einen ‘gemischten’ Begriff interpretieren, für dessen Eingrenzung sowohl empirische wie auch evaluative bzw. normative Kriterien herangezogen werden müssen (Redlich 1952), sind radikalere Vertreter der Ansicht, daß empirische Kriterien letztlich irrelevant sind. Zweitens unterscheiden sich die Deutungen in bezug auf die Frage, wessen Wertungen bzw. Normierungen es jeweils sind, die für die Definition des Krankheitsbegriffs relevant sind: Geht es um die Wertungen oder Normen der Betroffenen (Nordenfelt 1987), die der Gesellschaft oder die bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Margolis 1976, v. a. S. 252; Göckenjan 1985, S. 59 ff.), oder gehen die entscheidenden Standards aus Aushandlungsprozessen in der Arzt-Patient-Kommunikation hervor (Lanzerath 2000)? Drittens kann die Art der Standards, auf die jeweils Bezug genommen wird, unterschiedlich sein: Es kann sich z.B. um individuelle Präferenzen (Nordenfelt 1987), um kulturell verankerte oder ‘natürliche’ Werte (Fedoryka 1997), um rechtliche oder um moralische Normen (Bobbert 2000) handeln. Dementsprechend können nichtnaturalistische Krankheitsdeutungen sowohl relativistisch wie universalistisch sein. Viertens müssen alle Deutungen des Krankheitsbegriffs nach ihrer Zielsetzung unterschieden werden: Geht es darum, die faktische Begriffsverwendung zu rekonstruieren, also ein Modell zu entwickeln, das es erlaubt, die Regeln zu verstehen, nach denen die Unterscheidung "krank/gesund" derzeit tatsächlich getroffen wird – oder geht es darum, eine plausible Begriffsverwendung vorzuschlagen, auch wenn diese möglicherweise in manchen Bereichen von der derzeitigen Verwendung abweicht?

4 Ethische und rechtliche Folgeprobleme: Ein Beispiel

Nach dem Gesagten läßt sich die Situation also wie folgt skizzieren: Einerseits gibt es moralische und rechtliche Normen, in denen die Zuschreibung von Rechten und Pflichten von der Unterscheidung "krank/gesund" abhängt. Andererseits ist umstritten, was diese Unterscheidung genau bedeutet, ob sie empirischen, evaluativen oder normativen Charakters ist, ob sie universalgültig oder kulturrelativ ist – und teilweise ist sogar umstritten, ob es sich überhaupt um eine sinnvolle Unterscheidung handelt, jedenfalls in bezug auf bestimmte Teilbereiche wie den Bereich psychischer Krankheit. Es liegt auf der Hand, daß dieser Zustand in ethischer Hinsicht unbefriedigend ist. Zum einen führt er zwangsläufig zu Problemen bei der Anwendung der betreffenden Normen. Zum anderen erschwert er auch die Diskussion über die Frage nach dem Sinn und damit auch nach der Gültigkeit dieser Normen.

Zwar sollte man die Situation nicht dramatisieren: In vielen Fällen ist relativ klar, welcher mit der Unterscheidung "krank/gesund" üblicherweise thematisierte Aspekt im Rahmen der jeweiligen Norm jeweils relevant ist. So speist sich die moralische Pflicht eines an einer Infektion Erkrankten, andere nach Möglichkeit nicht zu infizieren, schlicht aus der allgemeinen moralischen Verpflichtung, anderen keinen Schaden zuzufügen. Daraus ergibt sich, daß mit "Krankheit" im Kontext dieser Norm ein Zustand gemeint sein muß, der von anderen mit einem gewissen Recht als "Schaden" empfunden werden kann. Man könnte aber ebensogut sagen: Im Kontext dieser Norm kommt es im Grunde gar nicht darauf an, ob eine Person eine andere mit einer Krankheit infiziert, sondern darauf, ob sie ihr schadet und ob ihr dieser Schaden zurechenbar ist.

Allerdings liegen die Dinge nicht immer so einfach. Nicht in allen Fällen kann man problemlos den Aspekt des Krankheitsbegriffs herauspräparieren, auf den es im Kontext einer bestimmten Norm ankommt. Ein gutes Beispiel für die Komplexität der ethischen Probleme in Zusammenhang mit der Unterscheidung "gesund/krank" ist die Relevanz des Krankheitsbegriffs für die Zuteilung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Aus sozial- und rechtsethischer Perspektive kann man ja fragen: Ist es moralisch richtig, daß gesetzlich Versicherte genau dann einen Anspruch eine medizinische Leistung haben, "wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern"? Und, wenn ja, warum? Die Antworten werden sehr verschieden ausfallen, je nachdem, welche Konzeption distributiver Gerechtigkeit zugrunde gelegt wird und von welcher Interpretation des Krankheitsbegriffs man ausgeht. Zwischen Gerechtigkeitstheorien und Krankheitskonzeptionen sind dabei offenbar nur bestimmte, nicht jedoch beliebige Kombinationen möglich. Denn welche Aspekte der Unterscheidung "gesund/krank" jeweils normativ relevant sind, hängt von der zugrunde gelegten Gerechtigkeitstheorie ab; und umgekehrt bestimmt der zugrunde gelegte Krankheitsbegriff, welches Verteilungsmodell gerechtfertigt vertreten werden kann.

Wer beispielsweise eine radikal subjektivistische Variante einer nichtnaturalistischen Krankheitsdefinition vertritt, wird kaum ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem rechtfertigen können: Wenn dasjenige, was Bürger jeweils durch ein gemeinsam getragenes Gesundheitssystem sichergestellt wissen wollen, extrem unterschiedlich ist und es gar keine hinreichend große Schnittmenge dessen gibt, was für alle gleichermaßen gut ist, kann kein standardisierter Leistungskatalog mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Vertreter radikal subjektivistischer Krankheitskonzeptionen wie Tristram J. Engelhardt oder in Deutschland Horst Baier tendieren daher zu einer marktliberalen Organisation des Gesundheitswesens. (Baier 1997; Engelhardt 1996) Wer sich hingegen um eine Rechtfertigung eher sozialliberaler oder egalitaristischer Modelle der Mittelverteilung im Gesundheitswesen bemüht, wird auf universalistische Momente in nichtnaturalistischen Krankheitskonzepten rekurrieren oder versuchen, naturalistische Konzeptionen (die ja per se universalistisch sind) normativ aufzuladen. So legt Norman Daniels seiner an Rawls’ Theory of Justice orientierten Konzeption der Mittelverteilung im Gesundheitswesen Boorses biostatistisches Krankheitsmodell zugrunde. Daniels‘ zufolge fordert das Prinzip der Chancengleichheit, daß alle Bürger ihre natürlichen Anlagen in gleich guter Weise zur Geltung bringen können, ohne daran durch Umstände gehindert zu werden, die sie selbst nicht zu verantworten haben. Die Gesellschaft müsse daher das "normale Funktionieren" des Organismus ihrer Bürger gewährleisten. Aus Gründen der Chancengerechtigkeit sei sie also verpflichtet, Krankheit – verstanden als Störung der normalen spezies-typischen Funktionsfähigkeit – zu verhindern (vgl. Daniels 1985, v. a. S. 19-35).

Solche Versuche, ethisch zu klären, warum und inwieweit Kranke ein Recht auf sozial finanzierte medizinische Leistungen haben, muten vielleicht recht akademisch an. Sie sind aber durchaus – und in zunehmendem Maße – von praktischer Bedeutung. Je mehr nämlich die medizinischen Interventionsmöglichkeiten expandieren, desto mehr wird die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung "krank/gesund" aus der Deckung hervorgezerrt, die ihr ein beschränktes medizinisches Können gewährt hatte:

"Je mehr die Fähigkeiten des Menschen steigen, die Vorgänge im menschlichen Organismus zu erkennen und zu beeinflussen, umso größer werden die Schwierigkeiten […], Gesundheit von Krankheit zu unterscheiden, was aber auch für das Recht der Krankenversicherung notwendig zu sein scheint. Treffend ist diese Entwicklung in einem Wort von Aldous Huxley angedeutet [...]: »Die medizinische Forschung hat so enorme Fortschritte gemacht, daß es praktisch überhaupt keinen gesunden Menschen mehr gibt.«" (Mazal 1992, S. 8 f.)

Ein guter Beleg für die praktische Brisanz der Problematik ist die Diskussion über die sogenannte "Lifestyle-Medizin", die sich vor allem am Streit über das Potenzmittel Viagra entzündet hat: Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hatte eine Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für dieses Medikament – angesichts angeblich drohender Mehrkosten von jährlich etwa 15 bis 25 Milliarden Mark – unter anderem mit der Begründung abgelehnt, daß es sich bei erektiler Dysfunktion nicht um eine Krankheit handele. Diese Entscheidung ist durch die Urteile von Sozialgerichten jedoch wieder ins Wanken gebracht worden, die auch in der Frage des Krankheitswerts der erektilen Dysfunktion zu anderen Beurteilungen kamen.

Weder für den Bundesausschuß noch für die betreffenden Sozialgerichte darf man aber unterstellen, daß sie sich bei ihren Entschlüssen auf eine wirklich überzeugende und hinreichend genaue Definition des Krankheitsbegriffs stützen konnten. Ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zufolge ist nämlich "unter Krankheit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung ein regelwidriger […] Körper- oder Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat" (SKAT-Urteil des BSG, Az: B 8 KN 9/98 KR R), wobei Regelwidrigkeit wiederum als Abweichung "Leitbild des gesunden Menschen" interpretiert wird.

Diese Formeln sind offenbar nicht nur sehr vage, sondern bergen auch die Gefahr tautologischer oder zirkulärer Begründungen: Kann denn Behandlungsbedürftigkeit als Kriterium für den Krankheitswert dienen, wenn zugleich der Krankheitswert darüber entscheidet, was mit Finanzierung der Kassen behandelt werden soll? Kann die Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen erläutern, was regelwidrig (und damit krank) ist, wenn die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit im Sozialrecht eine vollständige Dichotomie darstellt und Gesundheit ihrerseits nicht definiert ist? Bei kluger Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Meinungslagen kann die Rechtsprechung mit solch flexiblen Formeln vielleicht einige Zeit Rechtsfrieden herstellen. Sollten sich jedoch die Konfliktlagen und Verteilungskämpfe im Gesundheitswesen deutlich verschärfen, wofür einiges spricht, wird man die Kriterien, nach denen Leistungskataloge eingegrenzt werden, genauer benennen müssen. Die Rekonstruktion unseres Verständnisses von Krankheit und Gesundheit und die Erschließung ihrer normativen Implikationen ist hierfür, wie es scheint, ein wichtiger Beitrag. Dabei ist analytische Klarheit nötig – aber auch eine hermeneutische Vorsicht, die nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet.

5 Literatur

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