Zurück


Werner, Micha H. (2006):

"Moral"

Der Text wurde ursprünglich 1997 verfasst. Eine überarbeitete Fassung ist erschienen in: Wils, Jean-Pierre / Hübenthal, Christoph (Hg.): Lexikon der Ethik. Paderborn: F. Schöningh, S. 239-248. Eine niederländische Fassung ist in Vorbereitung. 



1 Begriff

Von M. wird in verschiedenen Bedeutungen gesprochen. Der Begriff stammt ab vom lateinischen Terminus "mos", der mit "Sitte, Gewohnheit, Charakter" übersetzt wird, also die in einer konkreten Gemeinschaft eingelebten oder von einer Person internalisierten Verhaltensregeln bezeichnet.

Dieser Sinn des Wortstamms 'mos' deckt sich weitgehend mit einer der auch gegenwärtig noch aktuellen Bedeutungen von M.: Im Sinne des deskriptiven M.begriffs wird M. - sozusagen 'wertneutral' - entweder als Gesamtheit der sozial repräsentierten und im Persönlichkeitssystem der Individuen verankerten regelbezogenen Handlungsorientierungen und wechselseitigen Verhaltenserwartungen oder als eine näher bestimmte Teilklasse (nachdrücklich Gert, 1983/1966: 27 ff.) dieser Erwartungs- und Orientierungsmuster verstanden. Die Versuche einer spezifizierenden Eingrenzung des deskriptiven M.begriffs sind teils intensionaler, teils extensionaler Natur und rekurrieren häufig auf die zentrale Rolle bestimmter Grundbegriffe (wie 'Sollen', '­richtig' oder 'gut') im 'm. Sprachspiel', auf die spezifische Geltungs- oder Sanktionsinstanz m. Regeln oder auf die Differenz zu anderen Typen sozialer Handlungsnormierung (z.B. einerseits zu rechtlichen Normierungen, andererseits zu bloßen Konventionen).

Im Rahmen des deskriptiven M.begriffs wird von der Frage abstrahiert, inwieweit der mit den jeweiligen Verhaltenserwartungen und Handlungsorientierungen intern verbundene normative Gültigkeits- bzw. Richtigkeitsanspruch tatsächlich berechtigt, d.h. intersubjektiv anerkennungswürdig ist. Während allerdings in der Antike 'M.' noch stärker auf den Außenaspekt des Verhaltens bezogen war und daher auch als Bezeichnung für nichtmenschliche Naturvorgänge dienen konnte, wird der Gebrauch des deskriptiven M.begriffs heute in der Regel auf Fälle beschränkt, in denen der subjektive Glaube an die Gültigkeit gewisser regelhaft organisierter Vorstellungen für die Handlungsorientierungen oder Verhaltenserwartungen der M.subjekte maßgeblich ist. Bereits der deskriptive M.begriff bezeichnet daher in der Regel mehr als ein rein äußerlich beschreibbares Verhalten.

In Richtung des deskriptiven M.begriffs gehen z.B. die Definition des 'weiteren' M.begriffs im Historischen Wörterbuch der Philosophie (M. als "Gesamtheit der akzeptierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft" Caldera u. a. 1984: 149), die Definition in O. Höffes Lexikon der Ethik, die M. weitgehend mit 'Sitte' gleichsetzt und der ­Moralität bzw. der ­Sittlichkeit als der gültigen Gestalt der M. und Sitte gegenüberstellt (vgl. Höffe 1992/1977: 185 ff. u. 247 ff.). Als Beispiel für eine stärker spezifizierte Definition des deskriptiven M.begriffs läßt sich E. Tugendhats M.verständnis anführen. Tugendhat zufolge liegt das Spezifikum m. Normen darin, daß Normverstöße innere (Gewissens-)Sanktionen auslösen, die durch Erfahrungen einer grundlegenden, nicht auf bestimmte Fähigkeiten, sondern auf die Person als Gemeinschaftsmitglied schlechthin bezogenen Art von Lob und Tadel sozial konstituiert werden (Tugendhat 1992; Tugendhat 1993). H. Hastedt spricht statt von einem 'deskriptiven' von einem 'formalen' Verständnis "m. Vorstellungen" i.S. von "Vorstellungen über das Gute, die Handlungen faktisch leiten" (Hastedt 1991).

In dieser deskriptiven Bedeutung sind Pluralbildungen des Begriffs M. unproblematisch und gebräuchlich. Gesellschaftliche M.en, partikulare "Gruppenmoralen" oder individuelle m. Einstellungen können Gegenstand verschiedener Wissenschaften sein: Während ­M.psychologie und M.soziologie in empirischer bzw. rekonstruktiv-hermeneutischer Einstellung primär auf Organisation, Genese, Reproduktion und Tradierung kognitiver m. Schemata, m. Gefühle und m. Verhaltensmuster bezogen sind und Fragen der normativen Gültigkeit respektive der intersubjektiven Rechtfertigbarkeit m. Verhaltensweisen und m. Einstellungen in diesen Disziplinen nur als ein - allerdings gravierendes - forschungsmethodologisches Problem in den Blick geraten,[1] stehen diese Fragen im Zentrum des Interesses der M.theologie und der ­normativen Ethik als einer Teildisziplin der M.philosophie. Letztere wird dementsprechend als methodische Reflexion auf M. (im Sinne des deskriptiven M.begriffs) verstanden (vgl. z.B. Reese-Schäfer 1997: 19). Dies ist schon bei M. T. Cicero der Fall, der den Begriff "philosophia moralis" eigenem Zeugnis nach als Übersetzung des griechischen "ethike" geprägt hat (zur Begriffsgeschichte vgl. Caldera u. a. 1984: 150).

In einer zweiten, u.a. bei Chr. Wolff und I. Kant gängigen, inzwischen jedoch antiquierten Bedeutung bezeichnet M. auch diese Reflexion selbst, wird also synonym mit M.philosophie gebraucht (abgeleitet von lat. 'moralia'). So ist für Kant 'Moral' gleichbedeutend mit dem "rationalen Teil" der Ethik, demjenigen Teil also, den wir heute als ­normative Ethik bezeichnen würden (während in Kants System die "praktische Anthropologie" ihren "empirischen" Teil bildet, vgl. Kant 1968/1785, 388).

Eine dritte Verwendungsweise des M.begriffs läßt sich als 'präskriptiv' kennzeichnen (zur Unterscheidung zwischen deskriptivem und präskriptiven bzw. "normativem" Moralbegriff vgl. Steigleder, 1999: 17 ff.). Der präskriptive M.begriff bezeichnet, anders als der deskriptive, nicht konventionell vermittelte gesellschaftliche oder individuelle Verhaltens- und Einstellungsmuster, sondern bezieht sich als kontrafaktischer Begriff ausschließlich auf die (i.S. Kohlbergs) postkonventionelle, normativ-ethisch qualifizierte Handlungsorientierung autonomer Moralsubjekte. Wer den im präskriptiven Sinne von M. spricht, bezieht eine Teilnehmerperspektiive im m. Diskurs und nimmt explizit Stellung zu m. Geltungsansprüchen. In diesem Sinne ist 'm.' gleichbedeutend mit 'ethisch gerechtfertigt', 'legitim' oder (sittlich) '­richtig'. Demnach sind praktische Regeln[2] nicht aufgrund ihrer empirisch-sozialen Geltung (Akzeptanz, Anerkennung), sondern allein vermöge ihrer moralphilosophisch rechtfertigbaren normativen Gültigkeit (Akzeptabilität, Verbindlichkeit, Anerkennungswürdigkeit, Richtigkeit) als m. zu charakterisieren. Eine Handlung wird als in diesem Sinne m. bezeichnet, wenn (1) die Handlungsweise gültigen m. Regeln entspricht oder aufgrund gültiger m. Regeln ethisch rechtfertigbar (d.h. m.gemäß) ist, und wenn (2) gilt, daß die handelnde Person die Handlung freiwillig unterlassen hätte, wenn sie angenommen hätte, daß (1) nicht der Fall ist. Personen werden m. genannt, sofern sie sich um ein m. Handeln bemühen. Anders als der deskriptive kann der präskriptive M.begriff nicht sinnvoll im Plural verwandt werden, da ein prinzipieller, auf M. insgesamt bezogener moralischer Pluralismus oder Perspektivismus (im Gegensatz zu einem bloßen Wertpluralismus) mit der begriffsinhärenten Unterstellung der intersubjektiv verbindlichen Gültigkeit des moralischen Sollens unvereinbar ist.

Der präskriptive M.begriff ist durch Kants 'kopernikanische Wende' in der M.philosophie mit besonderer Deutlichkeit zur Geltung gebracht worden (­Kantianismus / Neokantianismus). Indem Kant m. Pflicht in radikaler Ausgrenzung aller empirischen Bestimmungsgründe zu bestimmen versuchte und zudem nicht schon das bloß pflichtgemäße Handeln, sondern ausschließlich ein Handeln "aus Pflicht" (u.a. Kant 1968/1785: 397) als m. anzuerkennen bereit war, hat er den Sinn m. Verbindlichkeit mit großer Schärfe gegen egozentrische (instrumentelle oder eudaimonistische) Orientierungen, gegen sanktionsgestützte und insofern extrinsisch motivierende rechtliche Normierungen sowie gegen konventionelle (traditionale) Ethos-Orientierungen abgegrenzt. Philosophiehistorisch folgenreich war freilich, daß Kants 'gesinnungsethisch' (­Gesinnung) zugespitzte Deutung des Sinns m. Verbindlichkeit im Kontext einer solipsistischen (vgl. Kuhlmann 1992/1990) und hermeneutisch-pragmatisch unreflektierten Konzeption praktischer Vernunft angesiedelt war. Dies hat Hegel zu dem Versuch veranlaßt, gegen Kants präskriptiven M.begriff das Konzept der substantiellen Sittlichkeit auszuspielen, welches eine dialektisch-vermittelnde 'Aufhebung' zwischen dem geschichtlich gewachsenen Ethos der sozialen Gemeinschaft und der Unbedingtheit einer kantisch verstandenen, prinzipiengeleiteten Gewissensmoral leisten sollte (vgl. u.v.a. Hegel 1972/1821). In dem Maße, in dem diese Aufhebung postulatorisch blieb, bedeutete dieser Schritt indes einen Rückfall hinter das mit Kants Moralphilosophie erreichte postkonventionelle Niveau der M.begründung.

Von einem kantischen M.verständnis geprägt ist auch J. Habermas' wohlbegründete, aber eigenwillige Terminologie. Habermas unterscheidet den "pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft" (Habermas 1991), eine Dreiteilung, die ungefähr die kantische Differenzierung zwischen technischen, pragmatischen und moralischen Imperativen abbildet (vgl. Kant 1968/1785: 416 f.): Pragmatische (kantisch: 'technische') Überlegungen beziehen sich auf die zweckrationale Optimierung des Mitteleinsatzes bei gegebenen Zielen; ethische (kantisch: 'pragmatische') Überlegungen dienen der teleologisch-ethischen Selbstverständigung von Personen oder ethischen Gemeinschaften im Hinblick auf das eudaimonistische Ziel eines 'guten Lebens'; moralische Überlegungen beziehen sich allein auf mit kategorischer Unbedingtheit gebotene Sollensnormen im Rahmen einer deontologischen Moralphilosophie (­deontologische Theorien). Habermas' Unterscheidung der Begriffe M. und Ethik kontrastiert scharf mit der oben beschriebenen Verwendung von M. i.S. des deskriptiven M.begriffs und Ethik i.S. einer methodischen Reflexion auf M. Ohne eine Erläuterung, welcher Ethik- und M.begriff jeweils gemeint sei, bleibt die Verwendung der Begriffe im derzeitigen m.philosophischen Kontext uneindeutig.

Als im Kontext des vorliegenden Werks irrelevant können zwei weitere Bedeutungen des M.begriffs außer Betracht bleiben, nämlich erstens M. i.S. eines (belehrenden) Fazits einer (v.a. Fabel-) Erzählung sowie zweitens die an die Übersetzung von 'mos' als 'Charakter' anschließende Bedeutung von M. i.S. vitaler (zumeist agonal orientierter) Motivation bzw. habituellen Disposition (etwa i.S. von 'Kampfgeist': "Nach der gestrigen Niederlage war die Moral der Mannschaft dahin.").

2 Entwicklung und Perspektiven

Ein gegenstandsadäquater Zugang zur Geschichte der M. (im deskriptiven Sinne) wird geistes- und ideengeschichtliche Perspektiven mit kultur- und sozialgeschichtlichen Perspektiven kombinieren müssen. 'Gegenstände' der Geistesgeschichte sind in hohem Maße intern verstehensvermittelt, derart, daß sie durch das Verständnis, das die Zeitgenossen von ihnen haben, allererst als Gegenstände konstituiert werden. Die Geschichte der M. erweist sich in dieser Perspektive als dicht verwoben mit der Geschichte der M.theologie und M.philosophie, deren Erträge das jeweils dominierende M.verständnis wesentlich mitbestimmen. Auch ist zu fragen, inwieweit sich die Geschichte der M. vom normativ-ethisch ausgewiesenen Standpunkt des 'Betrachters' aus als historischer Lernprozeß verstehen läßt. In einer empirisch-sozialwissenschaftlich gerichteten kulturgeschichtlichen Perspektive wird man hingegen Gehalte der avanciertesten und der repräsentativsten ethischen Systeme auch in ihrer Differenz und ihrem Wechselspiel mit dem dominierenden 'alltags-m.' Selbstverständnis der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und den vorherrschenden Mustern ihres faktischen Verhaltens betrachten und ggf. erklären müssen.

Die biblische Erzählung vom Sündenfall setzt die Entstehung des menschlichen Bewußtseins über die m. Differenz von Gut und Böse an den Anfang der Menschheitsgeschichte. Tatsächlich vollzieht sich die historische Entwicklung der M. im Rahmen komplementärer anthropologischer Konstanten. Als im Vergleich mit anderen tierischen Wesen weitgehend instinktentbundene 'Mängelwesen' (Gehlen 1986: 46 ff.) sind Menschen einerseits auf die erwartungsstabilisierenden, selbstverständniskonstituierenden und situationsorientierenden Leistungen sozialer Normsetzung existentiell angewiesen. Als kommunikativ vergemeinschaftete 'Sprachtiere' verfügen sie andererseits auch über die Fähigkeit zur intentional regelgeleiteten Handlungsorientierung im Rahmen sozial konstituierter Weltbilder, Wert- und Normsysteme. Als Vernunftwesen, aufgrund der mit der Kommunikationsfähigkeit verknüpften Reflexkonskompetenzen, sind sie überdies prinzipiell zur autonomen Selbstnormierung im kritischer Auseinandersetzung mit diesen Weltbildern, Wert- und Normsystemen imstande. Die (volle) Entfaltung der letztgenannten Fähigkeit ist allerdings soziokulturell und psychogenetisch höchst voraussetzungsreich, so daß, den m.psychologischen Studien L. Kohlbergs zufolge, auch in entwickelten Gesellschaften nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung die höchste Stufe der m. Entwicklung zu erreichen vermag (vgl. Kohlberg 1995: 58).

In 'primitiven' Gesellschaften sind die verschiedenen Formen theoretischer und praktischer Rationalität weitgehend konfundiert. Animistische Naturvorstellungen und auf sie bezogene technische (magische) Regeln, traditionale, evaluative und normative Orientierungen sind im mythischen Weltbild untrennbar miteinander verwoben (vgl. Habermas 1981: I, 72-113) und von Herrschaftsinteressen durchsetzt. Auch das Konzept der personalen Zurechenbarkeit von Handlungen bzw. der Zurechenbarkeit m. ­Verantwortlichkeit ist noch nicht entfaltet (vgl. klassisch Snell 1948/1946; sowie Kittsteiner 1991; Bayertz 1995), m. 'Schuld' noch nicht gegen Naturkausalität abgegrenzt (vgl. Holl 1980). Diese mythische Einheit naturwissenschaftlicher und moralischer Vorstellungen und Begriffe steht am Beginn der Philosophiegeschichte.[3] Die m.philosophische Berufung auf 'Natur' (jusis) erhält allerdings bald - ansatzweise bei Heraklit, unzweideutig bei den athenischen Sophisten - einen kritischen, gegen die blinde Anerkennung traditionaler, letztlich auf kontingenter 'Setzung' (qesis) basierender Regeln gerichteten Sinn. Die Erfahrung der Pluralität kultureller Wert- und Normensysteme löst in der 'griechischen Aufklärung' einen Prozeß der Problematisierung der traditionalen m. Orientierungsmuster aus. Durch die m.philosophischen Konzeptionen von Platon und Aristoteles und zumal durch die stoischen Ethikentwürfe wird Natur zum dominierenden Bezugssystem der M. erhoben, gegen das alternative Vorschläge - z.B. Sokrates' Versuch, Verbindlichkeit als argumentativ-dialogische Anerkennungswürdigkeit zu bestimmen - sich nicht durchzusetzen vermögen. Die positive Geltung des historisch wandelbaren Rechts wird von der ewigen Gültigkeit des Naturrechts unterschieden. In den m.philosophischen und m.theologischen Diskussionen der christlichen Scholastik gerät dieser ethische Naturalismus in Konflikt mit voluntaristischen Deutungen, denen zufolge die Verbindlichkeit m. Gebote durch den geoffenbarten Willen Gottes autorisiert wird. Diese Deutungen gewinnen jedoch erst im Rahmen des spätscholastischen ­Nominalismus eine Radikalität, die den zuvor gesuchten Kompromiß zwischen Offenbarungsglaube und Vernunfterkenntnis bedroht und schließlich der Einsicht den Weg bereitet, daß die präskriptiven Sätze der M. sich grundsätzlich niemals (allein) aus deskriptiven Aussagen z.B. über die Beschaffenheit der Natur herleiteten lassen ('Humesche Distinktion'; vgl. ­naturalistic fallacy / Naturalistischer Fehlschluß).

Auf die durch diese Einsicht dramatisch verschärfte Frage der M.begründung (­Begründungstheorien) werden zumal in nichttheologischen Ethiken bis heute verschiedene Antworten gegeben, die von radikalem m. ­Skeptizismus, m. ­Relativismus und m.philosophischem Nonkognitivismus (­Kognitivismus / Nonkognitivismus) über 'schwache', plausibilitäts- und common-sense-gestützte (­Konvergenzargumentation) oder intuitionistische Theorien (­Intuitionismus), 'instrumentalistische' und bei faktischen oder als supponierbar erachteten Interessen der M.subjekte ansetzende Konzeptionen (z.B. dem ­Kontraktualismus) bis zu bewußtseinsphilosophisch-idealistischen oder intersubjektivistisch-dialogreflexiven Versuchen einer infalliblen, unbezweifelbaren M.begründung reichen (z.B. transzendentalpragmatische Diskursethik; ­Kommunikative Ethik). Vereinzelt wird auch versucht, die Humesche Distinktion in Frage zu stellen (z.B. bei H. Jonas) und weiter an naturrechtliche Denkmuster anzuknüpfen (z.B. in der katholischen Neuscholastik; ­Thomismus/Neothomismus). Insofern die m. Intuitionen der M.subjekte und ihre im ­Gewissen verankerte Überzeugung von der Verbindlichkeit m. Normen gegenwärtig keinen Rückhalt in einer im wissenschaftlichen Diskurs allgemein oder auch nur mehrheitlich anerkannten Begründungstheorie findet, kann man von einer fortdauernden m. Legitimationskrise sprechen.

In bezug auf die mehrheitlich akzeptierten Gehalte zumindest des normativen Kernbereichs der M. scheint der Dissens hingegen weniger tiefgreifend. Öffentliche m. Kontroversen beziehen sich, wie es scheint, weitaus eher auf Grenzfragen, qualitativ neue m. Probleme sowie Abwägungsfragen denn auf die fundamentalen Grundnormen m. Orientierung selbst. Gegenüber den inhaltsreichen, heterogenen und vielfach partikularistischen mythischen M.systemen bedeuten die durch das Christentum vermittelten m. Anschauungen auch in formaler Hinsicht einen enormen Rationalisierungsfortschritt (Weber 1988/1920). Stellt sich bereits der Dekalog als ein überaus überschaubarer Katalog 'mittlerer Prinzipien' (grundlegender materialer M.normen) dar, so geht der schon im vorchristlichen Judentum unternommene Versuch zur Formulierung eines universalistischen M.prinzips (Goldene Regel, Nächstenliebegebot[4]) in dieser Hinsicht noch weiter. Daß die spätere westliche M.philosophie vielfach an die Gehalte des jüdisch-christlichen Überlieferungszusammenhangs angeknüpft und ein großer Teil dieser Gehalte in Gestalt der ­Menschenrechte weithin Anerkennung gefunden hat (vgl. Küng 1992/1990), dürfte daher weniger auf die kontingente Prägewirkung kultureller Traditionen überhaupt (Horster 1995), als vielmehr auf die intrinsische Überzeugungskraft dieser Gehalte selbst zurückzuführen sein. In diesem Sinne ist versucht worden, die historischen Veränderungen im M.bewußtsein als gattungsgeschichtlichen Lernprozeß in Analogie zur Kohlbergschen Stufentheorie der Ontogenese des m. Urteilsvermögens zu verstehen (vgl. Apel 1988).

Zu solchen Versuchen einer Erklärung der M.entwicklung durch die Rekonstruktion der historischen Entfaltung der 'normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit' (Ulrich 1997: 23) muß freilich die Berücksichtigung historischer und soziostruktureller Faktoren hinzutreten. Der Formenwandel gesellschaftlicher M. ist zugleich Bedingung für und bedingt durch soziale Veränderungen. Die wachsende Differenzierung und Dynamisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge steht in Wechselwirkung mit einer partiellen funktionalen Substitution der moralisch-sozialintegrativen 'organischen Solidarität' durch eine funktional-systemintegrative 'mechanische Solidarität' (Durkheim 1995). Dieser Befund darf jedoch nicht so interpretiert werden, daß M. in modernen Gesellschaften als solche obsolet, weil an die Funktionslogiken gesellschaftlicher Subsysteme schlechthin nicht mehr anschlußfähig wäre. Erstens ist die m. integrierende 'Vergemeinschaftung' nur zum Teil durch formale 'Vergesellschaftung' ersetzbar (Tönnies 1991/1887). Zweitens bleibt die implizite Normativität gesellschaftlicher Institutionen, zumal des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips, auf einen Legitimitätsglauben verwiesen, der sich letztlich nur aus m. Quellen speisen kann. Der mit starken, universalistischen Verbindlichkeitsansprüchen verbundene Kernbereich der Moral wird jedoch einem Zwang zu Formalisierung und Prozeduralisierung unterworfen. Ihr materialer Gehalt verengt sich auf grundlegende Interaktionsnormen, die zudem durch staatliche Sanktionsandrohungen flankiert werden. Partikularistische bzw. nicht universell als verbindlich erweisbare m. Orientierungen und Wertüberzeugungen werden hingegen dem - durch jene grundlegenden Interaktionsnormen geschützten - Privatbereich zugerechnet, der für unterschiedliche Lebensstile, religiöse oder weltanschauliche Orientierungen, aber eben damit auch für kollektive Selbstverständigungsprozesse über gemeinsam geteilte Wertorientierungen offen gehalten wird, die dann in politische Selbstbestimmungsprozesse transformiert werden können. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings die (nicht nur seitens des ­Kommunitarismus vorgetragene) Befürchtung, daß das Vordringen systemischer Integrationsmechanismen, zumal der konkurrenzbasierten und insofern entsolidarisierenden Logik des Marktes, sowie die anonymisierenden Wirkungen bürokratischen Entscheidungsvollzugs die Reproduktionsbedingungen und Entwicklungspotentiale des gesellschaftlichen m. Bewußtseins gefährden könnten.

3 Literatur

Apel, Karl-Otto 1988, Zurück zur Normalität? - Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-)geschichtlichen Übergangs zur postkonventionellen Moral aus spezifisch deutscher Sicht, in: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, herausgegeben von Apel, Karl-Otto, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 370-474.

Bayertz, Kurt 1995, Eine kurze Geschichte der Verantwortung, in: Verantwortung: Prinzip oder Problem?, herausgegeben von Bayertz, Kurt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3-71.

Caldera, R. T., J. L. Delmont-Mauri, E. Heymann u. a. 1984, Moral, moralisch, Moralphilosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Ritter, Joachim und Karlfried Gründer, Basel / Stuttgart: Schwabe, 6, 150-167.

Durkheim, Émile 1991, Physik der Sitten und des Rechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Durkheim, Émile 1995, Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschhaften, 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Edelstein, Wolfgang und Gertrud Nunner-Winkler 1986 (Hg.), Zur Bestimmung der Moral. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Gehlen, Arnold 1986, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Gert, Bernard 1983/1966, Die moralischen Regeln: Eine neue rationale Begründung der Moral. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen 1981, Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 2 Bände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen 1983, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen 1991, Zum pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: Erläuterungen zur Diskursethik, herausgegeben von Habermas, Jürgen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 100-118.

Hastedt, Heiner 1991, Aufklärung und Technik: Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Hegel, Georg W. 1972/1821, Grundlinien der Philosophie des Rechts: oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse: Mit Hegels eigenhändigen Notizen in seinem Handexemplar und den mündlichen Zusätzen. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien: Ullstein Verlag.

Höffe, Otfried 1992/1977 (Hg.), Lexikon der Ethik. München: C. H. Beck.

Holl, Jann 1980, Historische und systematische Untersuchungen zum Bedingungsverhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit. Königstein i. Ts.: Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum, Hain, Scriptor, Hanstein.

Horster, Detlef 1995, »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«: Moral und Recht in der postchristlichen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kant, Immanuel 1968/1785, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke: Akademie Textausgabe, herausgegeben von Kant, Immanuel, Berlin: Walter de Gruyter & Co., 4, 385-464.

Kittsteiner, Heinz D.B 1991, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M.: Insel.

Kohlberg, Lawrence 1995, Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Kranz, Walther 1939 (Hg.), Vorsokratische Denker: Auswahl aus dem Überlieferten: Griechisch und Deutsch. o. A.: Weidmann.

Kuhlmann, Wolfgang 1992/1990, Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik, in: Kant und die Transzendentalpragmatik, herausgegeben von Kuhlmann, Wolfgang, Würzburg: Königshausen & Neumann, 100-130.

Küng, Hans 1992/1990, Projekt Weltethos. München / Zürich: Piper.

Luhmann, Niklas 1978, Soziologie der Moral, in: Theorietechnik und Moral, herausgegeben von Luhmann, Niklas und Stephan H. Pfürtner, Frankfurt a. M., 8-116.

Reese-Schäfer, Walter 1997, Grenzgötter der Moral: Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Snell, Bruno 1948/1946, Die Entdeckung des Geistes: Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Zweite erweiterte Auflage. Hamburg: Claaßen und Goverts.

Steigleder, Klaus 1999, Grundlegung der normativen Ethik: Der Ansatz von Alan Gewirth. Freiburg i. Br. / München: Alber.

Tönnies, Ferdinand 1991/1887, Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Tugendhat, Ernst 1992, Zum Begriff und zur Begründung von Moral, in: Philosophische Aufsätze, herausgegeben von Tugendhat, Ernst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 315-333.

Tugendhat, Ernst 1993, Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Ulrich, Peter 1997, Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern / Stuttgart / Wien: Haupt.

Weber, Max 1988/1920, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bände. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Anmerkungen

[1] Über die Frage, ob und inwieweit auch die 'empirische' M.forschung methodologisch von dem Versuch einer rationalen Rekonstruktion m. Äußerungen und damit von der Möglichkeit einer intersubjektiv nachvollziehbaren und insofern gültigen Bewertung der mit ihnen erhobenen m. Geltungsansprüche abhängig ist, ließ sich bislang weder in der an L. Kohlbergs Untersuchungen (Kohlberg 1995) anschließenden m.psychologischen Debatte (u.v.a. Edelstein und Nunner-Winkler 1986) noch in der mit Durkheims Studien (vgl. Durkheim 1995; Durkheim 1991) einsetzenden m.soziologischen Diskussion Einigkeit herstellen (vgl. die "Habermas-Luhmann-Diskussion", u.v.a. Habermas 1983; Luhmann 1978) - obwohl sich aus hermeneutischen Überlegungen gute Gründe dafür gewinnen lassen, daß wissenschaftliche Versuche, "das Faktum Moral mit moralfreien Begriffen zu begreifen" (so Luhmann 1978: 43) wegen des inadäquaten Gegenstandszugangs von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.

[2] Der Regelbegriff in der M.philosophie ist vieldeutig; hier wird er als Oberbegriff verstanden, der sowohl Moralprinzipien als auch mittlere Prinzipien, Maximen oder situationsspezifische Normen umfaßt.

[3] Vgl. das älteste überlieferte Zitat eines Vorsokratikers (aus Anaximanders peri physeos): "Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen [...] in das hinein geschieht auch ihr Vergehen, nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit, nach der Ordnung der Zeit Anordnung." Übersetzung nach (Kranz 1939: 41).

[4] Vgl. z.B. die neg. Form der Goldenen Regel z.B. im apokryphen Buch Tobias 4, 16 und bei Hillel, Sabbat 31 a; die pos. Form in Matthäus 7, 12 und Lukas 6, 31.




Zurück